Uff, auf einmal dreht meine Instagram-Bubble durch: Im Stern wird ein Artikel veröffentlich, indem ein Chefarzt der Charité die Geburt als gefährlich bezeichnet. Wenige Tage später veröffentlicht auch Mai Thi Nguyen Kim in ihrem Maithink X-Format beim ZDF eine Kritik am Natürlichkeitstrend, auch im Bezug auf die Geburt. Auch sie bezeichnet Geburt als gefährlich. Sofort wurden Statistiken aus der außerklinischen Geburtshilfe als Antwort gepostet, die eine ganz andere Sprache sprechen. Auch Dr. Wolf Lütje kommt in einem vielfach geteilten Video zu Wort, bekannt als Vertreter der vertrauensvollen, natürlichen Geburt. Kurz gesagt ein Kuddelmuddel von Meinungen, Fakten und individuellen Erfahrungen. Zum Glück stand mein Termin mit Dr. Lisa Hoffmann schon länger fest – und ich konnte sie zu ihren Erkenntnissen aus der Forschung befragen.
Denn Lisa promovierte zum Thema Mindset und Geburt an der Universität Bonn und gründete das Institut „ein Anfang“ sowie den gleichnamigen Instagramkanal, auf dem sie ihre Forschung teilt und immer wieder auch pauschale Aussagen kritisch einordnet.
Wir sprachen darüber, wie unser Mindset nicht nur unsere Wahrnehmung sondern auch den Geburtsverlauf beeinflusst, ob wir es verändern können und ob das überhaupt notwendig ist.
Liebe Lisa, du hast zu dem Thema Mindset und Geburt geforscht und deine Doktorarbeit geschrieben. Wie bist du überhaupt zu dem Thema gekommen?
Ich habe acht Wochen vor der Geburt meines ersten Kindes angefangen, zu promovieren. Da hatte ich aber noch kein festes Thema und war auf der Suche. Ich fand es total interessant, weil in den Geburtsvorbereitungskursen und den Nachbesprechungen, meinte ich beobachten zu können, dass die Frauen, die schon im Vorbereitungskurs eher ängstlich waren, auch eine kompliziertere Geburt und ein schwierigeres Wochenbett hatten. Das fand ich super interessant und dachte, das könnte man mal untersuchen und schauen, ob es sich auch bei einer größeren Stichprobe zeigt. Da es in diesem Bereich aber noch keine guten psychologischen Fragebögen gab, habe ich den Mindset- Geburtsfragebogen entwickelt.
Was versteht man denn in der Wissenschaft unter einem "Mindset"?
Das Mindset kann man als mentale Repräsentationen erklären. Der gleiche Input wird von Personen unterschiedlich wahrgenommen und führt in der Folge zu unterschiedlichem Verhalten. Ein gleicher Stimulus wird anders interpretiert. Vorerfahrungen beeinflussen unsere Wahrnehmung. Man kann sich Mindsets also als mentale Brille vorstellen, mit der man seine Umwelt sieht und wahrnimmt. Je nachdem, wie man etwas wahrnimmt, führt es zu unterschiedlichem Verhalten. Mindsets gibt es ja für viele Bereiche, z.B. für Intelligenz. Denke ich eher, dass sie fix oder veränderbar ist? Das beeinflusst dann beispielsweise, wie lange ich Aufgaben bearbeite. Bindung ist ein in der Psychologie sehr gut erforschtes Mindset. Je nachdem, wie mein Mindset ist, interpretiere ich das Verhalten meines Gegenübers als etwas, wo ich Sicherheit finde, oder ich verhalte mich lieber abweisend, weil ich Angst habe, dass die Person verschwindet.
Es ist aber auch ein Problem, weil Mindset im Moment ein sehr gehypter Begriff ist, bei dem oft gesagt wird „Hab nur das richtige Mindset und dann läuft das alles schon“. Das ist leider nicht so einfach.
Dr. Lisa Hoffmann
Es ist aber auch ein Problem, weil Mindset im Moment ein sehr gehypter Begriff ist, bei dem oft gesagt wird „Hab nur das richtige Mindset und dann läuft das alles schon“. Das ist leider nicht so einfach. Bei dem Mindset der Bindung sieht man das ja ganz gut: das ist etwas, das sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt und was auch relativ tief sitzt. Das sind Glaubenssätze und die kann man nicht mal so eben schnell ändern.
Wir haben das Mindset dann auf die Geburt übertragen und geguckt, ob es für die Geburt auch ein Mindset gibt, also ob ich die Geburt eher als einen natürlichen Vorgang wahrnehme oder eher als einen medizinischen. Diese beiden Ansätze werden häufig als konkurrierend dargestellt, aber wir behandeln es eher wie ein Kontinuum. Die eine Ausprägung ist medizinisch und die andere natürlich und man würde sich dann irgendwo auf diesem Kontinuum einordnen.
Ist es dann so, dass alle Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe und alle Eindrücke über die Geburt, die ich in Medien oder von Freund*innen gehört habe, mein Mindset formen?
Genau, das ist die Annahme. Also wenn ich selbst mit einem Kaiserschnitt geboren wurde, dann liegt die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es eher ein komplizierter Geburtsvorgang war. Dann habe ich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang gehört, dass ich vielleicht fast gestorben wäre bei der Geburt. Und das führt dann wahrscheinlich eher dazu, dass ich ein medizinisches Mindset entwickle. Plus das, was ich in den Medien und durch Freunde mitbekomme. Wir haben Studien mit Schüler*innen und Student*innen durchgeführt und da haben wir gesehen, dass das Mindset schon in diesem Alter repräsentiert ist, aber da wissen wir noch nicht richtig, woher das kommt.
Wie siehst du das: Wie veränderbar ist das Mindset? Wie früh müsste man ansetzen, um es positiv zu verändern?
Ich weiß es nicht genau, aber ich würde sagen, dass ein Ansetzen in der Schwangerschaft zu spät ist. Man muss sich ja vorstellen, dass die Schwangere in dieser Zeit in einem sehr vulnerablen Zustand ist. Wenn man dann anfängt, Sachen zu verändern, stelle ich mir das sehr schwer vor. Viele Sachen brauchen ja auch viel Zeit und Information. Deswegen glaube ich, dass man schon früher ansetzen muss.
Meinst du, positive Geburtsberichte oder Videos von Geburten, die natürlich und ohne viele Interventionen ablaufen, können das Mindset verändern?
Das könnte man testen, ja. Ich wäre bei Schwangeren aber vorsichtig. Eine vaginale Geburt, selbst wenn sie sehr schön ist, könnte für eine Schwangere auch beängstigend sein, da ihr die Situation ja noch bevorsteht. Ich bin immer nicht ganz so optimistisch, was das Ändern des Mindsets angeht. Ich glaube es ist wichtiger, den Frauen Tools mitzugeben, um mit der Situation umzugehen. Und dann ist die Frage: Brauchen überhaupt alle ein natürliches Mindset? Oder kann ich bei den Frauen mit medizinischem Mindset danach suchen, was helfen würde, um es zu einem positiven Erlebnis für die Frau zu machen? Vielleicht ist ein Mindset eher wie die Persönlichkeit, das kann man nicht so easy ändern.
Und dann ist die Frage: Brauchen überhaupt alle ein natürliches Mindset? Oder kann ich bei den Frauen mit medizinischem Mindset danach suchen, was helfen würde, um es zu einem positiven Erlebnis für die Frau zu machen?
Dr. Lisa Hoffmann
Hebammen und Ärzte, die die Frau während der Vorbereitung und der Geburt begleiten haben ja auch ein Mindset. Habt ihr das auch in eurer Studie berücksichtigt?
Das haben wir versucht, aber es haben leider nicht genug Personen teilgenommen. Es gibt aber eine kanadische Studie, in der gefunden wird, dass Mediziner*innen ein eher medizinisches Mindset haben und Hebammen eher ein natürliches. Das müsste man empirisch nochmal untersuchen, wie sich das auf den Geburtsverlauf ausüben könnte.
Wir erheben auch, ob Frauen eine außerklinische Geburt planen oder eine 1:1 Betreuung durch eine Hebamme. Das korreliert immer mit dem Mindset: also Frauen suchen sich ihre Geburtsumgebung aus. Alle Personen sollten auch gemäß ihres Mindsets begleitet werden, sodass man positive Geburtserlebnisse schaffen kann. Wir haben in der Studie gefunden, dass für Personen mit eher natürlichem Mindset Interventionen in der Bewertung nochmal schlimmer sind, als für Personen mit einem medizinischem Mindset, weil es nicht zu ihrer Einstellung passt und sie es nicht wollen. Dann könnte man darauf achten, vorher noch andere Dinge auszuprobieren, bevor man interveniert, während es für Personen mit medizinischem Mindset nicht so schlimm in der Bewertung ist, wenn interveniert wird.
Was habt ihr euch noch in der Studie angeschaut?
Wir haben eine Längsschnittstudie durchgeführt und die Frauen bis 6 Monate nach Geburt begleitet. Wir haben zusätzlich verschiedene Persönlichkeitsvariablen erhoben, weil sich ja die Frage stellt, ob nicht z.B. Neurotizismus oder eine allgemeine Ängstlichkeit etwas mit der Geburt zu tun hat. Wir haben aber eher gefunden, dass das Mindset etwas geburtsspezifisches ist. Also Personen, die eher ängstlich sind, können auch ein natürliches Mindset haben und andersherum. Wir haben gefunden, dass der stärkste Risikofaktor für Interventionen während der Geburt ist, erstgebärend zu sein. Der Faktor ist sogar stärker als das medizinische Risiko und das geburtsbezogene Mindset. Wenn man erstgebärend ist, hat man eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, interveniert zu werden. Über die Gründe kann man spekulieren: Vielleicht hat man weniger Wissen oder ist über die Schmerzen überraschter. Eine Hypothese ist auch, dass Geburtshelfer*innen die Annahme haben, dass die Frauen es noch nicht gut können und dann eher intervenieren.
Wir haben ein Problem mit der Stigmatisierung nach interventionsreichen Geburten. Das ist total ironisch: Wir haben den Anspruch an Frauen, natürlich zu gebären, aber bieten ein Setting, was das genaue Gegenteil ist. Da kann ich als Frau ja nicht gewinnen.
Dr. Lisa Hoffmann
Wir haben gefunden, dass das Mindset einen Einfluss auf den Geburtsverlauf hat. Ein natürliches Mindset geht damit einher, während der Geburt weniger Interventionen zu benötigen. Die Personen, die weniger Interventionen während der Geburt benötigt haben, hatten tendenziell ein positiveres Geburtserleben. Woran das liegt, kann man nicht sagen. Bei dem Kaiserschnitt ist es so, dass es für Personen mit medizinischem Mindset zwar weniger schlimm ist, als für Personen mit natürlichem Mindset, aber auch für die ist der Kaiserschnitt schlimmer als eine vaginale Geburt. Interventionen sind ja auch nicht schön. Auch Sachen wie die Stigmatisierung spielen da mit rein.
In dem Video von MaiLab wird gezeigt, dass es in unserer Gesellschaft ein Streben nach der natürlichen Geburt gibt und es wird deutlich: Wir haben ein Problem mit der Stigmatisierung nach interventionsreichen Geburten. Das ist total ironisch: Wir haben den Anspruch an Frauen, natürlich zu gebären, aber bieten ein Setting, was das genaue Gegenteil ist. Da kann ich als Frau ja nicht gewinnen. Ich muss mich in diesem Spannungsfeld bewegen. Das ist ein Problem, dass Frauen das Gefühl haben zu versagen, wenn sie nicht natürlich gebären. Da muss man gesellschaftlich etwas ändern. Die natürlichen Geburten führen aber, das muss man auch sagen, zu positiveren Geburtserlebnissen. Da muss man differenzieren zwischen „Ich sollte Personen nicht stigmatisieren, die Interventionen benötigt haben“ und gleichzeitig anerkennen, dass interventionsreiche Geburten auch nicht das sind, wonach wir streben sollten, weil es an sich nicht so schön ist.
Wie ging es dann nach der Geburt mit der Studie weiter?
Wir haben in der Studie auch eine Tagebuchstudie im Wochenbett gemacht und die Frauen in den ersten 2 Wochen täglich gefragt, wie es ihnen geht, wie belastbar sie sich fühlen, wie das Stillen funktioniert hat und wie ruhig der Säugling war. In den nächsten vier Wochen haben wir das dann noch wöchentlich erhoben. Personen mit einem negativeren Geburtserlebnis hatten dann im Wochenbett insgesamt mehr Probleme. Ihnen ging es weniger gut, sie fühlten sich weniger belastbar und das Stillen funktionierte nicht so gut. Und das sagte dann wiederum vorher, ob 6 Monate nach der Geburt Symptome einer postpartalen Depression oder traumatischen Belastungsstörung aufgetreten sind. Wenn das Wochenbett eher schwierig war, war die Wahrscheinlichkeit eher hoch, psychopathologische Symptome zu entwickeln. Mit einem Teil der Stichprobe haben wir 6 Monate nach der Geburt zusätzlich einen Bonding Fragebogen durchgeführt. Bei hohem Wohlbefinden im Wochenbett war die Bindung zum Kind tendenziell sicherer als bei negativem Wohlbefinden.
Somit zeigen die Daten, dass eine interventionsarme Geburt einen Einfluss auf das Wochenbett und die Bindung zum Kind hat. Sie zeigen aber auch, dass ich auch ein positives Geburtserlebnis haben kann, wenn ich einen Kaiserschnitt habe, für den ich mich selbst entschieden habe. Dann geht es mir wahrscheinlich auch gut im Wochenbett und ich habe weniger Probleme.
Somit zeigen die Daten, dass eine interventionsarme Geburt einen Einfluss auf das Wochenbett und die Bindung zum Kind hat. Sie zeigen aber auch, dass ich auch ein positives Geburtserlebnis haben kann, wenn ich einen Kaiserschnitt habe, für den ich mich selbst entschieden habe. Dann geht es mir wahrscheinlich auch gut im Wochenbett und ich habe weniger Probleme.
Dr. Lisa Hoffmann
Was ist denn, wenn ich gerade schwanger bin und ein eher medizinisches Mindset habe: Muss ich mir dann Sorgen machen?
Nein, auf gar keinen Fall. Alle Studie, die wir machen, zeigen nur Trends. Wir machen keine Aussagen über individuelle Personen, sondern über viele Personen. Wir schauen uns somit Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten an. Das heißt, wir können gar keine Aussagen über einzelne Personen machen. Wenn jemand den Fragebogen ausfüllt, kann ich nicht daraus schließen, wie der Geburtsverlauf sein wird. Da würde ich immer sagen: es ist wichtig für sich zu gucken, was man für Bedürfnisse hat. Man sollte sich auch überlegen, welche Option auch noch in Ordnung wäre, wenn es mal nicht so funktioniert, wie man es geplant hatte. Man kann also nicht das eine oder das andere durchsetzen, sondern es gibt verschiedene Menschen mit verschiedenen Mindsets mit verschiedenen Bedürfnissen. Da muss man dann gucken, was für eine Frau individuell gut ist. Und nicht „Außerklinisch ist das einzig wahre“. Was ich immer wichtig zu sagen finde ist, dass das Mindset nichts ist, was ich mir aussuche. Ich kann es nicht so leicht ändern. Als Geburtshelfende Person sollte ich darauf achten, dass ich die Gebärende objektiv berate. Man muss einfach auch den Druck rauslassen, alles zu optimieren.
Liebe Lisa, vielen Dank für die Einblicke in deine Forschung und ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und Freude bei deiner Arbeit!
Mehr zu Lisa und ihrer Forschung findet ihr auf ihrer Webseite und ihrem Instagram-Account!
Wenn ihr euch individuelle Beratung zu euren Themen wünscht, sei es in der Vorbereitung oder Nachbereitung eurer Geburt, informiert euch hier über meine Angebote!
Aufgrund der heißen Debatte zumindest in meiner Instagram-Bubble rund um das Thema natürliche Geburt und sicherer Geburtsort, möchte ich euch nochmal ein paar Quellen verlinken, damit ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen könnt.
Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaften zur außerklinischen Geburtshilfe
Hebamme Jana Friedrich zum Spiel mit der Angst
Artikel im Stern (kostenpflichtig)
Video von Mai Thi zum Trend-Thema Natürlichkeit
Beitragsbild: Foto von Sarah Chai über pexels.com