Dieses Interview mit der Autorin und Journalistin Lena Högemann habe ich zwar schon im Sommer geführt, aber es erscheint nun pünktlich zum Roses Revolution Day – dem Tag im November, an dem Frauen vor genau dem Kreißsaal eine Rose niederlegen, in dem sie Gewalt oder Respektlosigkeit erfahren haben. Lena hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen – Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen.“ In unserem Gespräch sprechen wir über Lenas persönliche Geschichte hinter diesem Buch und vor allem darüber, was eine selbstbestimmte Geburt ausmacht und weshalb es so wichtig ist, offener über Geburten zu sprechen – Gerade auch mit Frauen, die Gewalt erfahren haben.
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Liebe Lena, hinter deinem Buch steckt eine persönliche Geschichte, kannst du uns einmal mitnehmen auf deinen Weg?
Ich hatte meine erste Geburt vor neun Jahren und ich hatte mich auf die Geburt vorbereitet. Ich hatte zwei Ratgeber gelesen und einen Geburtsvorbereitungskurs absolviert. Aber ich habe an keiner Stelle gewusst, dass es so etwas wie Fremdbestimmung oder Gewalt gibt, dass es Interventionen gibt, die nicht notwendig sind. All das, das kam in meiner normalen Vorbereitung nicht vor. Ich dachte, ich bin informiert, habe dann aber ganz schlimme Fremdbestimmung und Gewalt erlebt, angefangen mit Eingriffen, die medizinisch nicht notwendig waren. Die klassische Interventionskaskade wurde in Gang gesetzt, in dem ganz früh mit Wehentropf und PDA interveniert wurde und am Ende dann Sauglocke mit Dammschnitt zum Einsatz kam. Der Dammschnitt war weder angekündigt, noch hatte ich ihm zugestimmt. Heute weiß ich, dass er medizinisch nicht notwendig war, einfach aus Routine heraus gemacht wurde. Die Folge war eine posttraumatische Belastungsstörung, auch die Bindung zum Kind hat gelitten. Ich habe das aber alles nicht verstanden. In unserem System wird diese Gewalt stark normalisiert. Es ist mir vermittelt worden, dass das eine normale Geburt gewesen seu. Auf meinem Weg zur Heilung lagen Gruppengespräche, eine Therapie, meine Akte anzufordern, mit einer mir wohlgesinnten Hebamme zu besprechen und mich anschließend bei der Klinik zu beschweren. Im anschließenden Gespräch mit dem Chefarzt und in meinen Recherchen habe ich das System Geburtshilfe viel besser verstanden. Gewalt in der Geburtshilfe ist ein Problem, das sehr viele Frauen betrifft. Als ich fünf Jahre nach der traumatischen Geburt eine zweite, selbstbestimmte Geburt erlebt hatte, entschied ich mich dafür, dieses Buch zu schreiben.
Was glaubst du, warum wird über das Thema "Gewalt bei der Geburt" nicht so viel gesprochen? Warum denken viele vorher „Ich bin gut vorbereitet“ und dann kommt es ganz anders?
Es ist eine Ungerechtigkeit, dass Gebärende darüber nicht offen und frei informiert werden und das liegt unter anderem daran, dass Frauen, die betroffen sind, es selbst auch nicht wissen. Die gehen alle aus den Geburten, denen wird allen gesagt, „Das war eine richtige Geburt, das mussten wir alles so machen.“ Und viele Frauen denken, sie haben einen Fehler gemacht. Was wir gesellschaftlich schaffen müssten, ist, weg von diesem individuellen Problem zu kommen, das Frauen haben nach Geburten, hin zur Betrachtung des Systems insgesamt. Dazu bräuchte es Frauen, die ganz offen und ehrlich über ihre Erfahrungen reden, was natürlich schwierig ist, wenn sie es a) nicht verstehen und b) immer gesagt bekommen „Hauptsache das Kind ist gesund.“ Oft wird den Frauen hinterher diese Geburtserfahrung abgesprochen. Und gesellschaftlich betrachtet ist der Hauptgrund, glaube ich, das Patriarchat.
Ich habe oft den Eindruck, dass wir gar kein realistisches Bild davon vermittelt bekommen, wie Geburten ablaufen. Wie sieht eine realistische Aufklärung für dich aus?
Also tatsächlich, was du da ansprichst, ist ein Riesenproblem, etwa bei der Darstellung von Geburten in Serien. Immer liegen die Frauen auf einer Liege, schreien und pressen. Und es gibt keine Bewegung, es gibt keine alternative Geburtsposition. Geburt ist in Filmen immer Drama. Und es reproduziert sich ja auch. Also wenn ich das immer gucke, dann denke ich ja als Gebärende, ich muss mich da hinlegen. Ich glaube, es ist hilfreich, mit ganz vielen Frauen darüber zu sprechen, vor allen Dingen auch mit welchen, die außerklinisch geboren haben. Sich auch vielleicht mal ein Geburtshaus anzugucken oder ein Infovideo dazu, ist hilfreich. Es gibt ja auch YouTube oder Instagram-Kanäle, bei denen man wirklich mal eine ganz ruhige Wassergeburt sehen kann. Geburten sind nicht immer gleich, jede Geburt ist anders, jede Frau ist anders, Bedürfnisse sind anders. Und alles, was man in irgendwelchen Serien sieht, sollte man wirklich komplett anzweifeln.
Geburten sind nicht immer gleich, jede Geburt ist anders, jede Frau ist anders, Bedürfnisse sind anders. Und alles, was man in irgendwelchen Serien sieht, sollte man wirklich komplett anzweifeln.
Lena Högemann
Haben wir ein realistisches Bild von Geburt, Martina & Elisa?
Wir kennen alle die spektakulären Filmgeburten, in denen fast immer die Fruchtblase zuerst platzt, die Frau dann im Krankenhaus mit einem OP-Hemdchen und schmerzverzehrtem Gesicht
Was möchtest du den Frauen mitgeben, die sich auf die Geburt vorbereiten und wie können sie ihre Selbstbestimmung bewahren?
Zum einen ist es hilfreich, wenn Frauen sich grundsätzlich gut informieren und auch grundsätzlich verstehen, wie der biologische Prozess einer Geburt funktioniert. Mindestens genau so wichtig ist es aber, sich auf das System vorzubereiten, in dem ich gebären möchte. Wenn das eine Klinik ist, muss ich mir klarmachen, dass es dort Hebammen und Ärzt*innen gibt, die abfällige Kommentare machen. Ich habe vor meiner zweiten Geburt z. B. auch geübt, zu sagen, „Ich möchte nicht, dass Sie so mit mir reden.“ Dann kann man sich inhaltlich sehr gut vorbereiten. Ich mache immer die drei ‚Gs‘, also: Geburtsort, Geburtsplan, Geburtsbegleitung.
Zum Geburtsort – Es gibt Vor- und Nachteile aller Geburtsorte. Die muss man sich angucken und selbst entscheiden. Gut ist, sich mehrere Geburtsorte anzugucken und auf das Bauchgefühl zu achten. Ich wünsche mir wissende Frauen, die an Infoabenden ganz viele Fragen stellen. Zum Beispiel, wie ist Ihre Kaiserschnittrate? Wie erklären Sie das? Wie ist Ihre Dammschnittrate? Wie oft wenden Sie den Kristeller-Handgriff an? Etc.
Dann der Geburtsplan – Der Trick am Geburtsplan ist nicht so, dass die Geburt so laufen wird, wie der Plan ist, sondern man den Hebammen und Ärzt*innen mithilfe des Geburtsplans sagen kann: „Ich habe mir was überlegt, ich weiß, was mir wichtig ist. Ich möchte, dass Sie das so weit Sie können berücksichtigen.“
Dann: Geburtsbegleitung – Wenn der Partner/die Partnerin bereit ist, sich wirklich den Geburtsplan anzuschauen und dann zu sagen, „Ich helfe dir, dass es so wird und unterstütze dich.“, dann ist das gut. Das bedeutet auch, bei Eingriffen, die gemacht werden sollen, die richtigen Nachfragen zu stellen, z. B. „Was sind Alternativen?“. Das ist eine hohe Verantwortung, die die Begleitperson hat. Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, sollte daraus seine Partnerin frühzeitig hinweisen, damit diese eine weitere Begleitperson suchen kann, die diesen Job übernimmt.
Wenn ich bereits ein Kind bekommen habe und spüre, dass es auch mich betrifft und ich Gewalterfahrungen gemacht habe bei der Geburt - Was sind erste Schritte?
Es ist schon mal ein superwichtiger Schritt, zu erkennen, dass es einem schlecht geht wegen dieser Erfahrung. Das Wichtigste für diese Frau ist dann zu erfahren: Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld, dass das passiert ist, sondern Schuld ist das System, in dem du dein Baby zur Welt gebracht hast und du bist nicht allein mit dieser Erfahrung. Wenn man diese Erkenntnis hat, kann man sich Hilfe holen. Eigentlich ist die erste Ansprechperson die Hebamme im Wochenbett. Sie sollte Anlaufstellen in der Umgebung kennen. Wichtig ist für Frauen nach belastenden Geburten, dass das eigene Umfeld von Freundinnen und Verwandten nicht bagatellisieren, was sie erlebt hat, sondern die Frau anhören, das aushalten und sagen, „Es tut mir leid, dass dir das passiert ist.“ Dann gibt es ja zum Beispiel das Hilfetelefon schwierige Geburt von Mother Hood e.V. oder auf der Webseite von Schatten & Licht findet man Listen von Therapeutinnen und Gruppen von betroffenen Frauen. Wichtig ist, dass Frauen sich Hilfe suchen.
Das Wichtigste für diese Frau ist dann zu erfahren: Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld, dass das passiert ist, sondern Schuld ist das System, in dem du dein Baby zur Welt gebracht hast und du bist nicht allein mit dieser Erfahrung.
Lena Högemann
Ich möchte abschließen mit der Frage: Was ist für dich eine selbstbestimmte, gute Geburt?
Das entscheidet im Endeffekt die Frau selbst, wie sie die Geburt erleben will. Eine selbstbestimmte Geburt hat auch nichts mit dem Geburtsmodus zu tun. Eine selbstbestimmte Geburt kann eine natürliche Geburt ohne irgendwelche Eingriffe sein oder ein Wunsch-Kaiserschnitt, einzig die Frau entscheidet, was für sie das richtige ist. Und diese Geburt kann überall stattfinden, zu Hause im Geburtshaus oder in der Klinik. Selbstbestimmung heißt auch, zu sagen: „Ich habe jetzt so starke Schmerzen, ich will jetzt diese PDA.“ Selbstbestimmung heißt auch, dass informierte Frauen ihre Meinung ändern dürfen. Sie können in den Geburtsplan schreiben: „Ich will auf keinen Fall eine PDA.“ und dann doch sagen „Ich will die jetzt“. Selbstbestimmung setzt aber voraus, dass die, die die Frauen begleiten, Hebammen, Ärzt*innen, verstehen, dass jede Frau anders ist, andere Vorstellungen und Bedürfnisse und Wünsche und einen anderen Körper hat. Die Frau sollte im Zentrum von jeder Geburt stehen und es sollte auf Augenhöhe und wertschätzend mit ihr gesprochen werden. Das gilt besonders für Situationen, in denen es aus medizinischer Sicht Eingriffe braucht, weil es sich in eine nicht gute Richtung entwickelt. Hebammen und Ärzt*innen sollten dann sagen: „Das ist meine Sorge, ich würde jetzt gerne X machen, aber Y ist auch eine Option“. Wenn die Frauen dann eingebunden wird, kann auch diese Geburt selbstbestimmt sein.
Eine selbstbestimmte Geburt kann eine natürliche Geburt ohne irgendwelche Eingriffe sein oder ein Wunsch-Kaiserschnitt, einzig die Frau entscheidet, was für sie das richtige ist. Und diese Geburt kann überall stattfinden, zu Hause im Geburtshaus oder in der Klinik. (...) Selbstbestimmung heißt auch, dass informierte Frauen ihre Meinung ändern dürfen.
Lena Högemann
Vielen Dank Lena für dieses spannende Gespräch!
Mehr zu Lena Högemann und ihrem Buch findet ihr hier:
Lenas Webseite
Lenas Instagram-Profil
Lenas Buch: "So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen - Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen"
Die Hilfsangebote und Anlaufstellen für Betroffene, die Lena erwähnt hat:
Hilfetelefon schwierige Geburt Hier erreichst du Fachberaterinnen mit einem offenen Ohr und einem Überblick über regionale Unterstützungsangebote.
Mother Hood e.V. Hierbei handelt es sich um eine Elterninitiative, die sich sehr engagiert für eine bessere Geburtshilfe und sichere Geburten einsetzt.
Schatten & Licht e.V. Diese Selbsthilfe-Organisation zu psychischen Krisen rund um die Geburt bietet ein großes Netzwerk an Beraterinnen und Fachleuten.