Ich habe ja das Gefühl, es wird DAS Buch des Jahres im Bereich Erziehung & Familienleben – Nora Imlau veröffentlicht im Februar ihr neues Buch „Bindung ohne Burnout“ zu einem Zeitpunkt, an dem es auch mir nötiger denn je erscheint. Es hat mich unglaublich gefreut, mit Nora genau darüber ins Gespräch zu kommen.
Auch in meinem Elternleben war die „Erziehungspäpstin“, wie sie mal betitelt wurde, bereits früh sehr präsent. Sie brachte viel von meinem Wissen über Bindung, was ich mir in Studium und Fortbildungen angeeignet hatte, nochmal auf ein anderes Level in Sachen Anwendbarkeit und Haltung. Ich kann nicht sagen, dass ich von allem begeistert war, denn auch ich war anfangs überfordert von den vielen Ratschlägen zur Bindungsförderung. Ich verstehe sehr gut, dass sie heute die Verantwortung spürt, das was sie angestoßen hat, nicht die Eltern überrollen zu lassen – aber lest selbst! Viel Spaß 🙂
Kleiner Disclaimer: Ich habe das Buch noch nicht gelesen und erhalte auch keine Provision oder ähnliches, falls ihr es kaufen solltet. Bisher habe ich 4 Bücher von Nora gelesen plus zwei Kinderbücher, die mich allesamt begeistert haben. Ich stimme nicht immer allem 100% zu, aber das ist ja auch logisch – und ich finde sie selbst so herrlich undogmatisch und klar darin, dass man sich eben rauspickt, was zu einem selbst und der eigenen Familie passt, bis auf wenige Basics, die für alle gelten.
Liebe Nora, du hast mal gesagt, die Themen kommen so zu dir und du gehst einfach mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Was hat dich dazu gebracht, dass du gesagt hast: Ich muss dieses Buch jetzt schreiben?
Es war tatsächlich noch nie so, dass ich mir überlegt habe, was könnte jetzt ein gutes Buch sein unter Zielgruppenaspekten oder so sondern es war immer so, dass ein Thema mich einfach nicht losgelassen hat. Entweder weil es bei mir privat gerade eine große Rolle gespielt hat (Stichwort gefühlsstarke Kinder) oder weil ich im Austausch mit anderen Eltern gemerkt habe, da brodelt irgendwie was, da gibt es einen Bedarf, da gibt es auch eine Lücke. Ich hab im vergangenen Jahr ja mein Buch „Meine Grenze ist dein Halt“ veröffentlicht, was einen Nerv getroffen hat, wo sehr viele Menschen mir sagen: „Wow, endlich habe ich so etwas wie eine Anleitung, wie ich meine persönlichen Grenzen wahren kann.“ Und im Austausch habe ich dann gemerkt, dass ein Grund, warum dieses Grenzen-Thema gerade so groß ist, die Erschöpfung der Eltern ist. Dass viele Eltern erschöpft sind, weil sie ihre Grenzen nicht wahren, aber auch umgekehrt ihre Grenzen nicht wahren, weil sie so erschöpft sind. Und dann hab ich auch gemerkt: Wie krass ist auch einfach diese Zeit gerade, in der wir Eltern sind? In dieser wackeligen außenpolitischen Lage und Inflation, Pandemie… und immer höher werdenden Ansprüche an gute Elternschaft. Wir erfahren immer mehr über Neurobiologie und Entwicklungspsychologie und man soll nicht loben und man soll nicht dies und man soll nicht das. Und in diesem Spannungsfeld versuchen Eltern auch noch die besten Eltern zu sein, die sie sein können. Nicht laut werden, nicht schimpfen, nicht schreien, nicht drohen, nicht strafen, nicht loben… und das führt natürlich zu einer kolossalen Überforderung.
Und in diesem Spannungsfeld versuchen Eltern auch noch die besten Eltern zu sein, die sie sein können. Nicht laut werden, nicht schimpfen, nicht schreien, nicht drohen, nicht strafen, nicht loben… und das führt natürlich zu einer kolossalen Überforderung.
Nora Imlau
Ich sehe so viele Familien, in der heutigen Elterngeneration, die wirklich die allerbesten Ideale haben und die gleichzeitig wirklich dauerhaft mit einem Bein im Burnout stehen, sich permanent Vorwürfe machen, nicht genug zu tun. Die auch oft schwanken zwischen einem extrem perfektionistischen Erziehungsverhalten und völligen Einbrüchen, wo sie rumbrüllen „Es is mir jetzt alles egal! Guck 10 Stunden Fernsehen am Tag. Lass mich einfachen Ruhe“, weil sie SO erschöpft sind. Und ich will das gar nicht abwerten oder bewerten, ich verstehe total woher das kommt, aber es ist natürlich für die Familie nicht gesund in so einem Auf und Ab zu leben. Sondern es ist eigentlich wichtig, dass wir lernen, wie wir langfristig bindungsstärkend zusammenleben können, ohne permanent auszubrennen. Also wir müssen irgendwie eine lebbare Form von bindungsorientierter Elternschaft finden, die unter Normalbedingungen funktioniert.
Und von dieser lebbaren Form handelt dein Buch?
Ich habe versucht mit diesem Buch die Idee von bindungsorientierter Elternschaft auf ein realistisches Maß zusammenzusetzen und wieder stärker mit der tatsächlichen Bindungsforschung zu verzahnen. Der Begriff bindungsorientiert ist ja wenig definiert, jeder verwendet den irgendwie, und gerade in den sozialen Medien wird alles mit dem Hashtag #bindungorientiert versehen, wo man sich zumindest fragen kann, was das mit der Bindung zu tun hat. Und die Bindungsforschung, die zeigt eigentlich, dass es sehr wenig braucht, um sicher gebundene Kinder groß zu ziehen. Also Eltern die zugewandt sind und nett sind und Fehler machen und jedes dritte Signal gut wahrnehmen und reagieren, das reicht! Das wird aber nicht gesagt. Ich erlebe reihenweise, dass Eltern 95% richtig machen und sich an den letzten 5% aber so aufreiben, dass sie ausbrennen.
Und die Bindungsforschung, die zeigt eigentlich, dass es sehr wenig braucht, um sicher gebundene Kinder groß zu ziehen. Also Eltern die zugewandt sind und nett sind und Fehler machen und jedes dritte Signal gut wahrnehmen und reagieren, das reicht! Das wird aber nicht gesagt. Ich erlebe reihenweise, dass Eltern 95% richtig machen und sich an den letzten 5% aber so aufreiben, dass sie ausbrennen.
Nora Imlau
Bindungsorientiert bedeutet immer auch sich Schwächen einzugestehen, Fehler machen, großzügig sein mit den Kindern, ein bisschen mehr Gleichgültigkeit an manchen Stellen gegenüber den hohen Idealen zu haben ohne den Kindern gegenüber gleichgültig zu werden. Und das ist so der Entwurf, den ich in diesem Buch mache. Es ist ein Eltern-Entlastungsbuch, weil ich glaube, dass Entlastung gerade so nötig ist, aber es ist kein Freibrief und keine Abkehr von bindungsorientierten Idealen. Es geht mir nicht darum zu sagen: Wir haben es probiert mit dem netten Weg, klappt nicht, Eltern brennen aus, lass uns zurück zur autoritäten Erziehung.“ Sondern die Grundwerte bindungsorientierter Elternschaft sind super und ich bin total überzeugt, dass es kein wichtigeres kinderrechtliches Anliegen gibt, als das Erwachsene mit Kindern nicht mehr gewaltvoll umgehen. Trotzdem brauchen wir ein lebbares Maß und Vorstellungen, die sich umsetzen lassen für ganz normale Familien mit Jobs und Geldsorgen und mal Krankheitsphasen und Stress und eigenen Prägungen und Rucksäcken.
Ich kann mir auch vorstellen, du bist ja eine Vorreiterin in Sachen Bindungsorientierung, dass es sich ein bisschen anfühlt wie deine Verantwortung jetzt auch darüber aufzuklären.
Total! Ich spüre da ein großes Verantwortungsbewusstsein. Ich war eine der ersten Stimmen, die sich in der breiten Öffentlichkeit für Bindungsorientierung stark gemacht hat. Ich habe 2007 in der Zeitschrift Eltern angefangen, dafür zu plädieren, bindungsorientiert mit Kindern umzugehen. Da war ich damals, vor Instagram & Co, die erste Stimme überhaupt, die auf so einer großen Bühne über so etwas gesprochen habe. Es gab schon einzelne Blogs und Bücher im Eigenverlag z.B. von Julia Dibbern, aber es war noch eine kleine bindungsorientierte Nische. Dann kamen ja zum Glück auch andere dazu, dass hätte ich nie im Leben allein machen können oder wollen, aber als ich angefangen habe, war ich erstmal allein auf weiter Flur. Deshalb spüre ich jetzt auch so eine Verantwortung, ich habe da was angestoßen, dass es nicht die Leute überrollt.
In meinen Beratungen richte ich mich ja eher an Einzelpersonen oder Familien und packe da meist erstmal an der individuellen Ebene an. Gleichzeitig sagst du ja auch, es hat aber auch einen sehr stark gesellschaftlich und strukturellen Aspekt. Was machen wir damit?
Ich finde es wichtig die strukturellen Umstände zu benennen und nicht zu vernachlässigen. Gleichzeitig, wenn mein Buch jetzt enden würde mit der Aussage „Die Umstände sind einfach kacke. Good luck!“ Dann wäre das ja auch nicht hilfreich. Es gibt also natürlich auch in diesem Buch wieder eine Rückbindung auf „Bei allem was schwierig ist, was können wir tun?“ Wir haben alle ein starkes Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und wir brauchen die Option, in den Rahmenbedingungen in denen wir uns bewegen, zumindest im Kleinen schauen zu können, was wir besser machen können. Und uns vielleicht auch teilweise gegen ein System zu stellen, was uns immer mehr unter Druck setzt, alles schaffen zu müssen. Ich glaube, es gibt auch eine Rebellion im Kleinen, zu sagen „Wir halten unsere Familie so weit es geht fern von diesem Leistungsgesellschafts-Denken, wo Kinder und Erwachsene immer nur funktionieren, funktionieren, funktionieren müssen.“ Und gleichzeitig liegt darin natürlich die Gefahr, dass so jede Familie ein bisschen für sich sorgt und auf der großen Ebene nichts passiert.
Ich glaube, es gibt auch eine Rebellion im Kleinen, zu sagen „Wir halten unsere Familie so weit es geht fern von diesem Leistungsgesellschafts-Denken, wo Kinder und Erwachsene immer nur funktionieren, funktionieren, funktionieren müssen.“ Und gleichzeitig liegt darin natürlich die Gefahr, dass so jede Familie ein bisschen für sich sorgt und auf der großen Ebene nichts passiert.
Nora Imlau
Was meinst du damit?
Ich beobachte im Moment schon, dass gerade die privilegierten Familien mit dem entsprechenden Geld und Bildung und Ressourcen ihre Kinder gewissermaßen rauskaufen aus verschiedenen Zwängen, damit ihr eigenes Kind in diesem System nicht mehr leiden muss. Und die Kinder, deren Eltern das nicht können oder wollen, die bleiben darin hängen. Und da finde ich es wichtig, sich klar zu machen: Wir können natürlich auf individueller Ebene tun, was immer uns und unseren Kindern hilft, aber wir sollten darüber nicht privilegienblind werden und denken „Jetzt ist das Problem ja gelöst, jetzt geht es uns nichts mehr an.“ Wenn ich also mein Kind auf einer superteuren Privatschule habe, bei der ich sehr glücklich bin, gehe ich trotzdem solidarisch mit auf die Straße, wenn Lehrer und Eltern für Verbesserungen im öffentlichen Schulsystem eintreten. Wenn mein Kind nicht in die Kita geht, weil ich mich entschieden habe, kitafrei zu leben, ich mich trotzdem solidarisiere mit Erzieherinnen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Und dass ich anerkenne, dass ich aufgrund von Privilegien eine Lösung finden konnte, und dass es wichtig ist solidarisch zu sein mit denen, die andere Lösungen brauchen.
Man spürt, wie wichtig dir dieser Blick auch ist! Ich beobachte bei Eltern und mir selbst auch diese Tendenz zu denken: „Was ist falsch mit mir? Alle anderen kriegen das doch auch hin!“
Absolut. Und deshalb kann der Blick auf die systemischen Umstände auch etwas Entlastendes haben. Wir haben ja manchmal die Tendenz die Verantwortung für alles in uns selbst zu sehen. Das wird uns manchmal in dieser Leistungsgesellschaft ja auch so eingeflößt: „Du kannst alles schaffen! Du bist deines Glückes Schmied! Alles, was dir passiert, ist eine Folge davon, was du entschieden hast.“ Das ist einfach nicht die ganze Wahrheit. Es kann eine entlastende Funktion haben, zu verstehen, dass ich als alleinerziehende Mutter, mit zwei Kindern struggle mit manchen Tipps, die in Erziehungsratgebern stehen. Das ist nicht mein persönliches Versagen, sondern hat auch etwas damit zu tun, dass in diesem wirklich reichen Land sehr wenig Geld in die Hand genommen wird, um Alleinerziehenden und ihren Kindern Rahmenbedingungen zu geben, unter denen sie feinfühlig und friedvoll agieren können. Keine Kindergrundsicherung, Besteuerung wie Singles ohne Kinder, sehr viel Arbeit und Stress, gleichzeitig oft wenig Geld für Entlastungsmöglichkeiten wie eine Haushaltshilfe o.ä., die sich vielleicht Paare leisten können. Und das muss man mitdenken und es hilft die persönlichen Versagensgefühle dahinzupacken, wo sie hingehören. Und dann kann ich trotzdem fragen: Wie kann ich unter diesen Rahmenbedingungen so freundlich wie möglich mit mir und meinen Kindern sein und wo kann ich sozusagen meine Lücke im System finden.
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Viele Eltern suchen dann auf individueller Ebene nach DER einen Methode, dem EINEN Weg, der das Problem für immer löst. Wie ist dein Blick darauf?
Du denkst es dir wahrscheinlich schon: Ich glaube nicht, dass es den EINEN goldenen Weg, den EINEN Schlüssel für alle gibt. Ich glaube auch darin steckt ein immenser Druck zu denken, man muss nur das perfekte System finden. Und ich sehe das teilweise bei Eltern, die einen Kurs nach dem anderen buchen, immer auf der Suche nach DER Lösung. Und ich glaube wir müssen anerkennen, dass wo so unterschiedliche Persönlichkeiten zusammentreffen, wie das im Familienleben ist, es nicht die eine Lösung geben kann. Weil letztlich jedes Kind uns in einer anderen Weise als Elternteil braucht, weil Kinder untereinander eine Dynamik entfalten, wenn wir mehr als eins haben, weil wir als Eltern bestimmte Prägungen und Stärken und Schwächen mit an den Tisch bringen, die in manchen Situationen sich so auswirken und in anderen Situationen anders und da gibt es keine Standardlösung. Aber es gibt natürlich ein paar Impulse, die auch in meinem Buch vorkommen, von denen ich glaube, dass sie grundsätzlich gut tun können. So Basissachen, die Konzentration auf das Wesentliche. Wir haben Kinder bekommen, um es gut mit ihnen zu haben. Elternschaft soll sich im Kern schön anfühlen und verbindend. Sie darf auch anstrengend und nervig und überfordernd sein, das gehört alles dazu. Aber das Grundgefühl sollte doch sein: Es ist schön mit meinen Kindern Zeit zu verbringen. Das ist nicht immer und zu jedem Zeitpunkt erreichbar. Aber welche Weichen können wir stellen, damit wir wieder gerne mit unseren Kindern Zeit verbringen? Was müssen wir tun? Wo müssen wir vielleicht bestimmte Ideale loslassen?
Elternschaft soll sich im Kern schön anfühlen und verbindend. Sie darf auch anstrengend und nervig und überfordernd sein, das gehört alles dazu. Aber das Grundgefühl sollte doch sein: Es ist schön mit meinen Kindern Zeit zu verbringen. Das ist nicht immer und zu jedem Zeitpunkt erreichbar. Aber welche Weichen können wir stellen, damit wir wieder gerne mit unseren Kindern Zeit verbringen?
Nora Imlau
Kannst du ein Beispiel geben?
Wir haben ja ein Bild im Kopf von gelungenem Familienleben, wo alle gemeinsam am Tisch sitzen und die Mahlzeiten zelebrieren und ganz viel basteln und wandern und ganz viel Familienzeit haben. Und dann muss man wirklich schauen: Sind das Bilder, die uns dienen? Die uns nützen? Die uns helfen, in unserem Familienleben? Oder sind es Bilder, die uns einschränken und stressen und Druck machen? Und dann solche Dinge loslassen und sich sagen: Vielleicht sind wir jetzt gerade keine Familie, die dreimal am Tag zusammen ist und vielleicht sind wir eine Familie in der 15 Minuten Medienzeit am Tag gerade nicht reicht, damit alle genug Pause bekommen. Und vielleicht sind wir eine Familie, die keine Weihnachtskekse backt und nicht jedes Wochenende einen Ausflug macht. Diese innere Freiheit zu haben: Wir sind gut und richtig, wenn wir tun, was für uns gut und richtig ist. Und nicht wenn wir irgendwelche externen Maßstäbe und Anforderungen erfüllen. Das kann sehr helfen. Es kann auch helfen zu gucken, welche Punkte auf meiner täglichen To-Do Liste erfüllen wirklich Bedürfnisse von mir oder meinen Kindern und welche Dinge halte ich einfach hoch, weil ich einen inneren Antreiber habe, die mir sagen: Du musst! Es geht gerade bei Müttern oft auch ums Nein sagen. Nein ich muss nicht für jeden Basar noch einen Kuchen backen, ich muss nicht für jeden Kindergeburtstag noch aufwendigste Sachen vorbereiten.
Da kommt auch dein Konzept der „moralischen Neutralität“ ins Spiel, über das du auch bei Instagram öfter sprichst…
Moral ist ja die Umsetzung unserer Werte im Alltag. Also wir haben eine bestimmte Idee davon, was wir richtig und falsch finden und dann versuchen wir per Moral diese abstrakten Ideen in unser tatsächliches Leben zu transformieren. Und es ist ja auch sehr wichtig, dass wir nach unseren Werten leben. Aber wir neigen dazu, unglaublich viele Dinge mit Moral aufzuladen, die eigentlich gar nichts damit zu tun haben. Ob ich Pfannkuchen mache oder Nudeln mit Tomatensoße, ob ich meinem Kind Schuhe von Deichmann anziehe oder Schuhe von Wildling, das sind erstmal moralisch neutrale Dinge. Das sind Alltagsentscheidungen und natürlich kann ich für mich entscheiden, dass Nachhaltigkeit einen hohen Wert für mich hat, dann ist dieser Schuh vielleicht für mich doch nicht moralisch neutral und dann kann ich da auch einen Fokus hinlegen. Aber wenn ich anfange alles in meinem Alltag mit Moral aufzuladen, dann komm ich aus den Schuldgefühlen gar nicht mehr raus. Das kann sehr hilfreich sein, sich zu fragen: Wo geht es wirklich um Moral? Und aus meiner Sicht ist da wirklich die Essenz: Wie will ich mit meinen Kindern umgehen? Wie will ich mit meinen Mitmenschen umgehen? Es ist meine Moral, dass ich meine Kinder als vollwertige Menschen sehen und behandeln möchte. Aber wo steckt einfach auch mal keine Moral drin? Ob die Küche aufgeräumt ist oder nicht ob ich hier oder da einkaufe… das sind Dinge, da dürfen wir die Moral auch mal rausnehmen und dürfen auch mal pragmatisch draufgucken und sagen: Wofür hab ich Zeit? Wofür hab ich Kraft? Wofür hab ich Geld?
Ob die Küche aufgeräumt ist oder nicht ob ich hier oder da einkaufe… das sind Dinge, da dürfen wir die Moral auch mal rausnehmen und dürfen auch mal pragmatisch draufgucken und sagen: Wofür hab ich Zeit? Wofür hab ich Kraft? Wofür hab ich Geld?
Nora Imlau
Wir dürfen den Alltag entschlacken von Moral und für uns entscheiden. Es gibt natürlich ein paar Dinge, die sind nicht moralisch neutral. Es ist für mich nicht egal, ob man ein Kind schlägt oder nicht, aber es ist moralisch neutral ob ich einem Kind mit drei Jahren das Schwimmen beigebracht habe oder mit sieben. Wenn ich alles moralisch auflade, versperrt mir das den Blick auf das, was wirklich wichtig ist. Also wenn jeder Schuhkauf für uns eine Gewissensentscheidung wird, dann fangen wir an, an Stellen wo es wirklich wichtig ist, die Moral aus dem Blick zu verlieren. Weil wir so gestresst sind. Wenn wir für uns den Fokus klar haben und uns selbst sagen: Die oberste Priorität ist, dass ich gut mit meinem Kind umgehe und mit mir selbst. Ich muss für mich die Priorisierung klar haben und erkennen, dass es Dinge gibt, an denen kein moralischer Wert hängt, sondern vielleicht Glaubenssätze oder gesellschaftliche Ideale.
Wenn du das so beschreibst, fällt direkt auf, was für ein immenser Druck das ist. Wenn man versucht immer bei allen Entscheidungen und in allen Lebensbereichen moralisch alles perfekt zu machen.
Und es kann deshalb total helfen zu hinterfragen, warum assoziiere ich was mit einer bestimmten Moral. Gibt es da einen guten Grund für oder ist das eher eine Prägung und Vorstellung, die ich übernommen habe. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Moral etwas subjektives und persönliches ist. Und ich kann mich fragen: Wenn mir alles über den Kopf wächst, was ich nicht antaste als Wert, ist der respektvolle Umgang mit meinen Kindern. Alles andere kommt an zweiter Stelle. Und dann kann ich auch sagen: Für meinen nachhaltigen, veganen Lebensstil hab ich jetzt gerade keine Ressourcen mehr. In einem halben Jahr vielleicht wieder, aber jetzt gerade nicht. Es ist also ein gewisser Pragmatismus, der dadrin steckt.
In einem anderen Interview mit Laura Fröhlich hast du erwähnt, dass manchmal auch eine schwierige Dynamik zwischen den Eltern entsteht. Wenn beide die ganze Zeit erschöpft sind und immer wieder rudern, irgendwie alles am Laufen zu halten, dass man sich vielleicht gegenseitig die Schuld zuschiebt und ähnliches. Wie tappt man gar nicht erst in diese Falle oder wie kommt man da wieder raus?
Das ist etwas, das ganz häufig passiert. Da geht es auch viel um das Thema Mental Load, den Stress an alles zu denken, was man in der Familie so organisieren muss, die viele in dieser extremen Form vor den Kindern nicht kannten. Da passiert sehr oft eine Ungleichverteilung, weil Frauen durch ihre Sozialisation viel stärker dafür trainiert sind, diese Gedankenlast zu tragen, gerade auch im häuslichen Kontext. In einer klassischen heterosexuellen Familien wird diese Arbeit von Frauen wenig gewürdigt, weil sie so unsichtbar ist. Da entsteht schnell eine Schieflage, bei der beide Eltern das Gefühl haben: „Ich mach doch total viel. Ich hänge mich hier echt rein, warum siehst du das denn nicht?“ Das kann dazu führen, dass da so eine Verbitterung und gegenseitige Verachtung entsteht. Die mündet dann manchmal in ganz ungünstigen Dynamiken, bei denen man sich gegenseitig anklagt, faul zu sein, dann kommt die Defensive und man rechnet sich gegenseitig vor, wer wieviele Minuten mit was verbracht hat. Das sind sehr menschliche Dynamiken und gleichzeitig können die echt gefährlich werden für eine Paarbeziehung. Und wir wissen, dass gerade so die ersten 3-4 Jahre nach der Geburt eines Kindes, gerade auch nach der Geburt eines zweiten Kindes, eine Zeit ist, wo sich viele Paare trennen. Und da spielt diese Thematik Aufgabenteilung, gerechte Rollenverteilung auch eine riesige Rolle. Genauso wie das Thema Wertschätzung und sich nicht wertgeschätzt zu fühlen.
Und wir wissen, dass gerade so die ersten 3-4 Jahre nach der Geburt eines Kindes, gerade auch nach der Geburt eines zweiten Kindes, eine Zeit ist, wo sich viele Paare trennen. Und da spielt diese Thematik Aufgabenteilung, gerechte Rollenverteilung auch eine riesige Rolle. Genauso wie das Thema Wertschätzung und sich nicht wertgeschätzt zu fühlen.
Nora Imlau
Was kann dann ein erster Schritt aus dieser Dynamik raus sein?
Ich finde es total wichtig, so wie wir manchmal bei Kindern sagen, dass wir das Bedürfnis hinter der Handlung erkennen müssen, das auch bei Erwachsenen zu sagen. Aufzuhören mit „Du hast aber… ich hab aber..“ Lass uns die Bedürfnisse dahinter sehen und verstehen. Und wirklich etablieren, sich gegenseitig unglaublich viel Wertschätzung zu geben, für das, was der andere tut. Wenn wir jetzt in einem ganz klassischen Setting denken: Ein Vater, der jeden Tag morgens aus dem Haus geht und um 18:00 Uhr nach Hause kommt, sollte als aller aller erstes seiner Partnerin Wertschätzung ausdrücken und sagen „Es ist so krass, was du heute wieder gerockt hast.“ Auch für scheinbare Selbstverständlichkeiten wie „Du hast die Spülmaschine ausgeräumt, du hast unser Kind vom Kindergarten geholt, alle haben etwas an… krass, das ist richtig harte Arbeit und das sehe ich.“ Das sollte Normalität sein, jeden Tag. Und umgekehrt ist es natürlich auch wichtig! Also nicht zu sagen „Jaja, du hast den ganzen Tag nur im Büro rumgehangen.“ sondern auch zum Beispiel diese Verantwortung und finanzielle Last anzuerkennen. Und gleichzeitig nicht in die Falle zu rutschen zu sagen „Mein Mann arbeitet ja viel mehr als ich“. Weil statistisch gesehen arbeiten Mütter 96 Stunden die Woche – also Care-Arbeit plus teilweise noch Erwerbsarbeit, das ist einfach unglaublich viel. Ich finde es wichtig, dass man da in so eine Wertschätzung kommt, in ein gegenseitiges großzügiges Lobspenden.
Ist es normal, so erschöpft zu sein?
Du fühlst dich gestresst, erschöpft oder zweifelst immer öfter an dir als Mutter? Viele Eltern mit kleinen Kindern sind nach fast drei Jahren Pandemie und anderen globalen oder ganz persönlichen Krisen am Ende ihrer Kräfte oder bereits darüber hinaus. Auch das Müttergenesungswerk schlägt Alarm. Die körperliche Erschöpfung der Mütter habe zugenommen,
Und gleichzeitig über eine Neuverteilung von Mental Load zu sprechen, ohne dass es mit Vorwürfen und Gegenvorwürfen endet. Ich finde es wichtig, dass Männer, also cis-Männer, anerkennen, dass sie meistens qua Sozialisation ganz viel Gedankenlast in der Familie nicht sehen. Es macht sie nicht zu schlechten Menschen, sie sind keine Arschlöcher, sie arbeiten auch ganz viel. Aber sie müssen anerkennen, dass das ein Ding ist und Bereitschaft zeigen eine Umverteilung auch zu akzeptieren. Und die Umverteilung bedeutet nicht: „Sag mir halt Bescheid, wenn ich ein Geschenk besorgen soll, das mach ich dann schon.“ Sondern wirklich gesamte Teilbereiche zu delegieren. Also mein Mann und ich haben uns das zum Beispiel so aufgeteilt, alles was mit Elternabenden und Schulkrimskrams von einem Kind anfällt, ist deins und alles was von einem anderen Kind anfällt ist meins. Und die Verantwortung ist wirklich 100%, ich bin also auch nicht in der Whats-App-Gruppe drin. Und wenn mein Partner, meine Partnerin was versemmelt, was vergisst, dann muss er das auch selber ausbaden. Aber das geht natürlich auch nur, wenn beide Seiten echt Einsatz zeigen und nicht in so eine strategische Inkompetenz rein rutschen.
Liebe Nora, zum Abschluss noch die Frage: Für wen ist dein Buch gedacht, wer sollte es auf jeden Fall lesen?
Ich glaube es ist ein Buch für alle Leute, die Familienleben leben, die Kinder begleiten, ob ich ganz kleine Kinder habe oder große, ob ich mich ausgebrannt fühle – dann gibt es sehr akute Ideen. Oder ob ich das Gefühl habe, ich steh eigentlich gerade noch ganz stabil da, aber ich möchte verhindern, dass es irgendwann so weit kommt. Es geht weniger um die Kinder, sondern mehr um die Haltung, die wir als Erwachsene finden müssen. Eine Haltung von gesunder Selbstfürsorge, von Großzügigkeit, von einer Fehlerkultur, bei der man sich nicht dafür fertig macht, Dinge nicht hinzubekommen,.Wo es viel darum geht, was ist eigentlich die Essenz von Bindung und einem gelungenen Familienleben? Und deshalb ist es wirklich ein Grundlagenbuch für alle, die sich damit beschäftigen wollen, wie sie ihr Familienleben auf eine stabile Basis stellen, ein stabiles Fundament. So dass wir nicht permanent kurz davor sind, alles hinzuschmeißen, weil wir so erschöpft sind.
Ich freue mich jetzt sehr auf dieses neue Buch von Nora und bin total gespannt, was du darüber denkst:
Was konntest du aus unserem Gespräch für dich mitnehmen? Wo stehst du in Sachen Burnout und Erschöpfung aktuell? Wie immer gilt: Wenn dich das Thema sehr beschäftigt oder belastet, melde dich gerne für eine Beratung bei mir!
Der beste Weg, um mehr über Nora zu erfahren, ist ihr Instagram-Kanal:
Nora's Instagram-Profil
Das ist ihre Webseite inkl. Link zur Vorbestellung ihres neuen Buchs:
Nora's Webseite & Bücher
Sehr empfehlen kann ich euch auch Noras Gespräch mit Laura Fröhlich in deren Podcast:
"Mütter am Limit" in der Mental-Load-Sprechstunde